Bildung durch Signalwirkungen (1)

von Phil Eulenspiegel

Vor kurzem bin ich im Rahmen meines Blumenberg Studiums auf eine Textstelle gestoßen, die sich – wie ich finde – auf recht ungewöhnliche Weise mit dem Thema Bildung beschäftigt. Blumenberg spricht dort nicht, wie man es sonst von Philosophen gewohnt ist, von Bildung als Mittel zur Formung der Persönlichkeit oder dem einzig rechtmäßigen Weg zur Menschwerdung im Allgemeinen. Es lässt sich dort vielmehr ein gewisser Bildungs-Pessimismus herauslesen, denn schon der dieses Thema einleitende Satz lautet:

Wir müssen den Gedanken an einen Bildungstypus zunehmend preisgeben, der von der Norm beherrscht wird, der Mensch müsse jederzeit wissen, was er tut.1

Diesen Satz wird man missverstehen, wenn man die Aussage für die ureigene Ansicht Blumenbergs hält; denn im Grunde möchte auch er – so denke ich – an diesem „preiszugebenden Bildungstypus“ festhalten. Dieser Satz ist vielmehr aus der Perspektive eines „Zeitgeistes“ verfasst, der schon zu lange um sich greift, als dass man ihn als bloße Mode bezeichnen könnte. – Es ist ein Geist, der unverhohlen die „Eliminierung »unnützen« Lernstoffes“  zugunsten einer »Erleichterung« der funktionellen Umsetzungen“ fordert.2

Zu den „Symptomen“ dieses Geistes könnte man mit Fug und Recht das so genannte „Turbo-Abitur“ oder den Bologna-Prozess rechnen. – Beides Entwicklungen innerhalb des Bildungssystems, die meines Erachtens vollkommen zu recht erbittert bekämpft werden bzw. worden sind. Dennoch bleiben diese  „Reformen“  eben bloß „Symptome“ und es ist nicht zu erwarten, dass mit dieser Tendenz zur „Pragmatisierung“ der Bildung nun einfach Schluss sein wird.

Aber bevor ich hier „den Feind an die Wand male“, sollten wir versuchen zu verstehen, wo das Problem (zumindest ungefähr) liegt. Ich frage also anhand eines Beispiels: Ist es in einem Physikkurs, der die Bewegung von Körpern durchnimmt, nötig, dass der Name Newton fällt? (ich meine hier nicht die physikalische Einheit für die Kraft, die man auch nur mit N benennen könnte, sondern den Namen des Mannes, der die Gesetze hinter den Kräften erforscht hat.) … Eigentlich ist doch schon der Satz  „Isaac Newton hat als erster die Gesetze der Bewegung beschrieben.“ im Physikkurs ein überflüssiger. Denn: Was dieser Mann konkret zu der Erforschung der Bewegungsgesetze geleistet oder sogar darüber hinaus hervorgebracht hat, ist für den zu lernenden Stoff doch vollkommen irrelevant. Im besten Falle könnte es dem Verständnis durch bessere Zugänglichkeit auf die Sprünge helfen, aber die schiere Menge des durchzunehmenden Stoffes, der sich durch die stetigen Fortschritte des Menschen auch noch immer weiter anhäuft, spricht nun mal gegen die Zeitverschwendungen, die durch sachfremde Bezugnahmen entstehen.

Wird die Anekdote, dass Newtons „Überlegungs-Anstoß“ ein Apfel war, der (ihm vielleicht sogar auf den Kopf) fiel, in Zukunft noch erzählt werden? Oder sollte sie vielleicht sogar, weil sie für die Sache im Grunde irrelevant ist, einfach vergessen werden? Und: Warum überhaupt ein Apfel?

Die Trennlinie zwischen nützlichem und unnützen Wissen verläuft in diesem Beispiel zwischen den physikalischen Gesetzmäßigkeiten einerseits und Geschichte bzw. Geschichten andererseits. Man wird vielleicht noch einwenden wollen, dass man von der Person Newton in einem Geschichtskurs im Rahmen einer Unterrichtseinheit Wissenschaftsgeschichte handeln könnte. – Ich würde aber darauf antworten: Das könnte man natürlich, läge dort nicht der gleiche Zwang zur Reduktion auf das „Relevantere“ gegenüber dem weniger relevanten vor.

Bevor dieser Text hier aber vollends zu einem bildungs-politischen mutiert, möchte ich noch einmal auf Blumenberg zurückkommen, der die Verfechter des möglichst kompletten Erhalts der Bildungsgüter als unter den Druck einer umgekehrten Beweislast gesetzte darstellt: „[W]er tradierte Bildungsgüter verteidigt, soll beweisen, was sie noch wert sind.“3 Vielmehr müsste es – und darauf möchte Blumenberg uns wohl stoßen – heißen: Wer tradierte Bildungsgüter angreift, soll beweisen, warum sie nichts mehr wert sind. Dass die Beweislast in Wirklichkeit leider nicht so gelagert ist, ist natürlich beklagenswert, gleichzeitig aber eben auch eine Tatsache und Blumenberg ist an dieser Stelle nicht mehr und nicht weniger als der Überbringer der schlechten Nachricht.

Einen Vorschlag zum Kompromiß, der lauten könnte, dass man nun also von Fall zu Fall entscheiden müsse, welche Bildungsgüter erhalten bleiben müssten und welche nicht, wird man bei Blumenberg nicht finden. Was diese Bildungsgüter nämlich seiner Meinung nach ganz allgemein und ohne Rücksicht auf ihre Inhalte auszeichnet, ist ihre Fähigkeit zum „Umweg“ zu verleiten. So unterstellt er etwa, „daß »Bildung« […] etwas mit [der] Verzögerung der funktionalen Zusammenhänge zwischen Signalen und Reaktionen zu tun hat.“4 – Die Reaktion folgt dem Reiz nicht mehr auf dem kürzesten Wege, sondern eben nach einem Umweg, der  natürlich länger ist als der direkte und deswegen auch länger dauert, „abgeschritten“ zu werden. Folgt man dieser An- bzw. Einsicht, so wird klar, dass Bildung in einer ganz grundsätzlichen Opposition zur erwähnten „Pragmatisierung“  steht.

Die blumenbergsche Auffassung von Bildung scheint also eine zu sein, die nicht darauf „ausgerichtet“ ist in jeder Situation die schnellste und effizienteste Lösung zu finden und/oder zu bevorzugen, sondern eine, die – so möchte ich meinen – für ein genaues Hinsehen und ein überlegtes Abwägen plädiert. – Tugenden also, für die man sich Zeit nehmen müsste, wenn man sie denn hätte.

(Fortsetzung folgt …)

[Update: Ich habe den Link zum Buch ausgetauscht, weil er – beim Einzelhändler ansetzend – vielleicht als suggestiv empfunden werden könnte. Er geht nun zum herausgebenden Verlag. Vorher ging er zu Amazon.

Update 2: Aufgrund von freundlichen Hinweisen hab‘ ich hier und da an ein paar Sätzen geschraubt. Außerdem musste ich einen Link zum Wikipediaartikel Humankapital entfernen, weil mir klar geworden ist, dass er zur Sache nichts beiträgt und ich schlicht zu wenig darüber weiß.]

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2 Ebd., S. 124.

3 Ebd.

4 Ebd.